Objekte

Detail aus gestrickter Blume in rot-gelb

A vision is not a perception but a creation
H. de Montalembert

Der Tastsinn ist neben dem Hörsinn eines der Sinnesorgane, die dem blinden Menschen die Wahrnehmung der Welt ermöglichen. Das Fingerspitzengefühl braucht Nahrung und Tummelplätze, sonst werden die Hände unruhig vor Langeweile. Schon immer habe ich viel und gerne gestrickt. Sehr schnell nach der Erblindung habe ich erfahren müssen, dass die visuellen Strickmuster im Gehirn unbrauchbar geworden sind und durch taktile ersetzt werden müssen. Masche um Masche habe ich stundenlang geübt, bis die Fähigkeit des Strickens wieder zurückgekommen ist. In dieser Rubrik kann ich Ihnen erste Strickobjekte vorstellen.

Blumen

Die von mir geschaffenen Blumen gehören zur Gattung der Biegeblumen. Sie sind aus Draht, Wolle und Schmuckperlen angefertigt. Wobei sowohl der Stängel wie auch die Blütenblätter nach Belieben gebogen werden können. Die gewählte Wolle ist sehr flauschig und angenehm zu berühren. Blütenblätter, kugelförmige Blumenmitten und Stängel mit oder ohne Blätter sind gestrickt und verbergen die darunter liegenden Materialien fast gänzlich. Die Blumen imitieren entweder bestehende Sorten wie Mohnblumen oder sie sind der Fantasie entsprungen.

Die Textilkünstlerin Ursula Gerber Senger hat meinen Blumengarten kunstvoll ins rechte Licht gerückt und fotografiert.

Mohnblumen

Ich fertige unter anderem rote Mohnblumen an, die eine besondere Botschaft vermitteln für Menschen, die durch einen schweren Schicksalsschlag in eine tiefe Krise geraten sind. Die rote Blume ist ein Symbol, das dem Märchen Jorinde und Joringel der Gebrüder Grimm entnommen ist. Das Märchen erzählt die Geschichte von zwei sich innig liebenden Menschen: Jorinde und Joringel. Die beiden spazieren in einem Wald und vergessen in ihrer Verliebtheit, dass sie sich unter keinen Umständen dem Schloss nähern dürfen. Die Hexe, die im Schloss wohnt, verzaubert alle jene, die zu nahe kommen, in einen Vogel und sperrt diesen in einen goldenen Käfig. Auch Jorinde wird von ihr in eine Nachtigall verwandelt. Untröstlich über den Verlust seiner Liebsten, irrt Joringel als Schafhirt durch das Land. Er weiss nicht mehr ein noch aus, bis er eines Nachts einen Traum hat: Er soll eine rote Blume suchen. Mit dieser Blume wird er den Bann über Jorinde lösen können und die Hexe wird ihre Zauberkraft verlieren. Am anderen Tag beginnt Joringel die Suche nach der Blume und findet sie am Rand eines Kornfeldes. Sofort macht er sich auf zum Schloss und befreit seine Jorinde. Die beiden führen wieder ein glückliches Leben.

In bestimmten Situationen, die völlig ausweglos scheinen, sind Menschen darauf angewiesen, dass sie auf ihre innere Stimme und ihre inneren Bilder hören. So können sie anderen helfen, den Käfig der Einsamkeit und Isolation zu öffnen. Die rote, taktile Mohnblume trägt eine Botschaft, die sich nicht nur an blinde und sehbehinderte Menschen richtet. Sie kann Trost spenden und Mut machen, wenn die Hexe Angst uns gnadenlos gefangen hält. Das Märchen Jorinde und Joringel gibt es als Hörbuch, untermalt mit Musik.
CD-Tipp: Michael Ende: Ophelias Schattentheater